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next floor 1 2022 Das Magazin für die Kundinnen und Kunden der Schindler Aufzüge AG We Elevate Mit diesen Massnahmen wird ein Gebäude barrierefrei «Design for All»: ein Aufzug für sämtliche Bedürfnisse Training mit Blindenstock und Rollstuhl in der St. Josef-Stiftung Hindernisfreie Gebäude sind für alle ein Gewinn Eine Schweiz ohne Hürde und Hindernis

next floor 1 2022 Das Magazin für die Kundinnen und Kunden der Schindler Aufzüge AG We Elevate Mit diesen Massnahmen wird ein Gebäude barrierefrei «Design for All»: ein Aufzug für sämtliche Bedürfnisse Training mit Blindenstock und Rollstuhl in der St. Josef-Stiftung Hindernisfreie Gebäude sind für alle ein Gewinn Eine Schweiz ohne Hürde und Hindernis next floor 1-2022 DE.indd 1 22.06.22 17:24 next floor gibt es auch online Titel: die Europaallee in Zürich / Bild: Beat Brechbühl 04 Grosse Fortschritte beim hindernisfreien Bauen 08 So sieht ein Gebäude ohne Barrieren aus 10 Wie drei Betroffene Hindernisse aus demWeg räumen 16 Das Ziel von Schindler: Die Produkte sollen von allen nutzbar sein 20 Interviewmit Eva Schmidt, Leiterin der Fachstelle Hindernisfreie Architektur 24 In der St. Josef-Stiftung trainieren Menschen mit Beeinträchtigung 28 Fünf Leuchtturmprojekte in Sachen Hindernisfreiheit 32 next news 34 Das neue Polizei- und Justizzentrum Zürich im Fokus 39 Facts & Figures

Impressum Herausgeberin Schindler Aufzüge AG Marketing & Kommunikation CH-6030 Ebikon Redaktionsleitung Roman Schenkel Redaktionsadresse next floor Zugerstrasse 13 CH-6030 Ebikon/Luzern nextfloor.ch@schindler.com Adressverwaltung address.ch@schindler.com Layout aformat.ch Bildrecherche Monika Reize Litho click it AG Druck Multicolor Print AG Auflage 25 000 Ex. Ausgaben zweimal jährlich in deutscher, französischer und italienischer Sprache Copyright Schindler Aufzüge AG Nachdruck auf Anfrage und mit Quellenangabe www.schindler.ch next floor wird klimaneutral auf FSC-zertifiziertem Papier gedruckt. Die für den Versand verwendete Plastikfolie besteht aus Polyethylen ohne Weichmacher und ist umweltfreundlich abbaubar. Im Vergleich zu Papierhüllen ist bei der verwendeten Folie ein vier- mal geringerer Rohstoffeinsatz notwendig. Laut Empa-Studie handelt es sich aktuell um die umweltschonendste Verpackungsart. EDITORIAL Liebe Leserinnen, liebe Leser Standen Sie schon einmal vor einem Aufzug, der nicht funktioniert hat? Auch beim zweiten und dritten Knopfdruck tut sich nichts. Ein Schild weist darauf hin, dass der Lift gerade planmässig gewartet wird. Vielleicht hatten Sie just an jenem Tag einen Grosseinkauf gemacht, zwei prallvolle Taschen müssen nach Hause geschleppt werden. Es bleibt nur die Treppe. Wenn auch ein anstrengender Umweg, immerhin verbleibt ein Weg. Für mehr als 1,5 Millionen Menschen in der Schweiz gibt es in solchen Situationen aber keinen Plan B. Sie leben mit einer Beeinträchtigung. Ein zu enger Durchgang, eine kleine Treppe im Eingangsbereich oder eine nicht rollstuhlgerechte Toilette können für sie ein unüberwindbares Hindernis darstellen. In der Schweiz enden auch im Jahr 2022 alltägliche Situationen wie ein Kino- oder Restaurantbesuch für viele Menschen im Frust. Um zu erfahren, wie sie ihren Alltag meistern, haben wir eine blinde Frau, einen Mann im Rollstuhl und eine Seniorin zum Gespräch getroffen. Hindernisfreies Bauen gewinnt in der Schweiz an Bedeutung. Doch immer wieder gibt es Widerstände. Aus Unwissen, aus Angst vor höheren Kosten oder aus der Überzeugung, dass die Form oder das Design eines Gebäudes wichtiger sind als die Funktion. Dabei gibt es ein schlagendes Argument für die inklusive Bauweise: Es profitieren nicht nur Menschen mit einer Behinderung, sondern wir alle. Ältere Menschen mit Gehhilfe, Personen mit Kinderwagen oder Verunfallte, die an Krücken gehen. Im Interview zeigt eine spezialisierte Architektin die Vorteile auf. Dass hindernisfreies Bauen nicht einschränken muss, sondern auch kreative Lösungen zu Tage fördert, veranschaulichen diverse Projekte. Aufzüge sind im barrierefreien Bauen ein wichtiger Puzzlestein. Als Aufzugsherstellerin will auch die Firma Schindler einen Beitrag leisten. Dazu hat unser Unternehmen das Team «Design for All» ins Leben gerufen. Die Arbeitsgruppe setzt sich dafür ein, dass die Produkte von Schindler für alle Personen zugänglich sind. Dazu zählt auch das Erfinden von neuen Dienstleistungen rund um den Aufzug – etwa, dass ein Lift bequem via Smartphone gerufen werden kann. Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre. Patrick Hess CEO Schindler Schweiz Weg mit den Hindernissen

4 next floor 1 / 22 HINDERNISFREIES BAUEN

5 next floor 1 / 22 Wer mit Bus, Zug oder Tram fährt, kann heute praktisch immer ebenerdig einsteigen. Das ist eine Folge des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) von 2004. Dieses verlangt, dass Menschen mit Behinderung im Alltag nicht benachteiligt werden dürfen. Vom Komfort der Niederflurfahrzeuge profitieren allerdings nicht nur Menschen im Rollstuhl, sondern alle Passagiere: Der Zugang fällt einfach leichter – insbesondere auch, wenn man einen Kinderwagen schiebt oder mit nachlassender Sehkraft kämpft. Komfortabel sind die neuen Fahrzeuge auch, wenn man nur kurzzeitig eingeschränkt ist, etwa wegen eines verstauchten Fusses. Vielfältige Bedürfnisse Zugang für alle Benutzerinnen und Benutzer, ungeachtet ihres Alters, ihrer Fitness oder ihrer Einschränkungen: Das ist der Hauptgedanke, der mal als hindernisfreies oder barrierefreies Bauen, mal als «access for all» oder «design for all» bezeichnet wird. Wichtiger als der Begriff ist die Haltung dahinter: Es wird nicht mehr eigens für Senioren, für Familien oder für Menschenmit Behinderung geplant undgebaut. Stattdessen suchen Architektinnen und Planer Lösungen, die für alle funktionieren. Wie bei den Niederflurfahrzeugen im ÖV geht es oft darum, Schwellen, Stufen und andere Hindernisse zu beseitigen. Ebenso wichtig sind die klare Signalisation, passende Materialien und optimale Lichtverhältnisse, damit sich auch Menschen mit Seh- oder Hörbehinderung zurechtfinden können. Felix Schärer ist Architekt und Leiter Hindernisfrei Bauen bei der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung SPV. Gemeinsam mit seinem Team plant und realisiert er behindertengerechte Umbauten von Liegenschaften. So sollen Menschen, die wegen eines Unfalls oder einer Krankheit eine Behinderung erleiden, weiterhin im gewohnten Umfeld bleiben können. Die Unterschiede zwischen einzelnen Personen und ihren individuellen Bedürfnissen sind dabei sehr gross, denn es gibt nicht «die» Behinderung. Gebäude müssen aber von allen Menschen benutzt werden können – von der Rollstuhlfahrerin, die ihre Arme noch gut bewegen und vielleicht sogar Para-Sport machen kann, ebenso wie vom Tetraplegiker im Elektrorollstuhl. Zugang zur Wohnung zentral So unterschiedlich wie die betroffenen Menschen sind auch ihre Wohnsituationen. Die häufigste und wichtigste Baumassnahme ist ein barrierefreier Zugang zur Wohnung. Bei Bauprojekten mit acht odermehrWohneinheiten ist dieser gesetzlich vorgeschrieben, ebenso bei öffentlich genutzten Gebäuden. Manche Kantone verlangen ihn bereits ab vier oder sechsWohneinheiten. Der Zugang umfasst die eigentliche Erschliessung, also die Gestaltung von Türen und Vorräumen. Damit die Mobilität im Gebäude erleichtert wird, müssen oft verschiedene Hindernisse beseitigt oder entschärft werden: Schwergängige Türen erhalten einen Motor, enge Durchgänge werden verbreitert oder Treppenstufen mit einer Rampe ergänzt. Beim behindertengerechten Ausbau von Wohnungen sindweitere individuelleMassnahmen notwendig. «Wir verbreitern zum Beispiel zu enge Türen, gestalten Badezimmer und WCs um, entfernen Schwellen und bauen teilweise auch die Küche um», sagt Felix Schärer. Oft stehe man bei älteren, aber auch neueren Bauten vor der Frage, warum sich manche Architektinnen und Architekten mit dem bedürfnisgerechten Bauen immer noch so schwer täten. Der Brandschutz, sagt Schärer, sei heute überhaupt kein Thema mehr, sondern werde ganz selbstverständlich berücksichtigt. Barrierefreies Bauen macht die gebaute Welt besser und einfacher zugänglich. Vom Kind bis zur Seniorin und vom Rollstuhlfahrer bis zur Passagierin mit viel Gepäck profitieren alle davon. TEXT Michael Staub BILD Beat Brechbühl Offen für alle c «Der Brandschutz ist heute überhaupt kein Thema mehr, sondern wird ganz selbstverständlich berücksichtigt. Beim barrierefreien Bauen ist man noch nicht ganz an diesem Punkt.» Bietet in Sachen Hindernisfreiheit sehr viel: The Circle beim Flughafen Zürich.

6 next floor 1 / 22 HINDERNISFREIES BAUEN

zusätzliche Massnahmen. «Insbesondere die Haptik von Oberflächen ist zentral. Der weisse Stock ist wie ein verlängerter Zeigefinger, über den Informationen ertastet werden», sagt Barbara Schaub von der Fachstelle Hindernisfreie Architektur. So können durch eine unterschiedliche Materialisierung des Bodens beispielsweise Wegstrecken und Wartebereiche unterschieden werden. Markierungen helfen, Treppen, Glasflächen oder Hindernisse zu erkennen. Auch taktil-visuelle Leitlinien, wie sie etwa von Bahnhöfen bekannt sind, helfen Menschen mit Behinderungen bei der haptischen und akustischen Orientierung. In diesem Zusammenhang ist auch die Raumakustik wichtig. «An lärmigen Orten müssen sich Menschen mit Sehbehinderungen, insbesondere Vollblinde, enorm konzentrieren, um relevante Informationen herauszuhören. Das ist sehr anstrengend», sagt Schaub. Mit einer durchdachten Gestaltung könne diese Geräuschinterpretation positiv beeinflusst werden. Aufzugskabinen halten millimetergenau Einfache Mobilität, aussagekräftige Sensorik und zusätzliche Unterstützung sind auch beim hindernisfreien Aufzug zentral. Dank präzisen Steuerungen halten die Kabinen heute an den Haltestellen millimetergenau an. «Wenn es keine Schwellen gibt und die Kabine gross genug bemessen ist, können wir Rollstuhlfahrenden den Aufzug selbständig und ohne grössere Verrenkungen nutzen», sagt Ian Eldøy, Assistent Field Quality & Excellence bei Schindler. Für eine angenehme Bedienung sollte das Tableau auf der richtigen Höhe angeordnet und idealerweise mit einem Horizontaltableau ergänzt werden. Grosse, kontrastreiche und mit einer Reliefschrift versehene Zahlentasten erleichtern die Bedienung. Ein Handlauf auf mindestens einer Seite gibt geh- und sehbehinderten Menschen zusätzliche Sicherheit. Zudem sollte das Kabinendesign so gewählt werden, dass Reflexionen und verwirrende Spiegelungen, etwa auf Hochglanzoberflächen, vermieden werden. Grossflächige Leuchtdecken sorgen für eine gute und blendfreie Beleuchtung. Schnelle Einsicht Wer barrierefrei bauen will, muss zahlreiche Themen berücksichtigen. Die gesetzlichen Grundlagen und das passende Knowhow sind in der Schweiz vorhanden. Ein Problem stellt zuweilen noch die fehlende Motivation der Bauherrschaften, Architekten oder Planerinnen dar. Doch dagegen gibt es ein einfaches Mittel, wie Barbara Schaub sagt: «Abhilfe schaffen kann eine Sensibilisierungsübung, bei derman selbst in einem Rollstuhl sitzt oder eine Simulationsbrille aufsetzt, um ein Gebäude zu erkunden. Man merkt sofort, welche Bedeutung scheinbar unwichtige Details haben und weshalb das hindernisfreie Bauen für uns alle wichtig ist.» Beim barrierefreien Bauen sei man noch nicht ganz an diesem Punkt. Die Schweiz wird immer älter Das barrierefreie Bauen wird durch die demografische Veränderung weiteren Auftrieb erhalten. Denn die Schweizer Wohnbevölkerung wird immer älter, und damit wächst der Anteil der Menschen, die in irgendeiner Form eingeschränkt sind. Mit dem Alter schwinden die Kraft und die Beweglichkeit und die Fähigkeiten zur Wahrnehmung (Hören, Sehen) und Kognition (Auffassungsgabe, Erinnerungsvermögen) nehmen tendenziell ebenfalls ab. Da die meisten älteren Menschen weiterhin in ihren eigenen vier Wänden leben wollen, muss auch der Gebäudebestand zunehmend barrierefrei werden. Vor der berüchtigten Spitalästhetik, die dem hindernisfreien Bauen lange Zeit anhaftete, muss man sich zum Glück nicht mehr fürchten. Denn die Baubranche hat grosse Fortschritte bei der Materialisierung und Gestaltung gemacht, wie etwa die moderne Badezimmergestaltung zeigt. «In den letzten 20 Jahren hat sich im Eigentumsbereich die bodenebene Dusche durchgesetzt. Diese Lösung ist viel angenehmer für alle, unabhängig von einer Behinderung», sagt Felix Schärer. Ebenso werden Balkone oder Terrassen sehr oft mit bodenebenen, schwellenlosen Türen erschlossen. Somit wird Barrierefreiheit, insbesondere im Neubau, nicht mehr die Ausnahme, sondern schon fast die Regel. «Dieses Ziel ist anzustreben», sagt Schärer. Unterstützung durch unterschiedliche Materialien Doch mit der Rollstuhlgängigkeit von Gebäuden ist es noch nicht getan. Damit auch visuell eingeschränkte Menschen die Gebäude sicher nutzen können, braucht es 7 next floor 1 / 22 c Vor der berüchtigten Spitalästhetik, die dem hindernisfreien Bauen lange Zeit anhaftete, muss man sich zum Glück nicht mehr fürchten. Denn die Baubranche hat grosse Fortschritte bei der Materialisierung und Gestaltung gemacht. Die Messe in Basel: Ein Treffpunkt für Menschen unterschiedlichster Art.

8 next floor 1 / 22 SIA 181 Raumakustik Ein guter Schallschutz vermindert störende Geräusche und erhöht die Verständlichkeit gesprochener Sprache. Je nach Gebäude und Nutzung können zusätzliche Massnahmen für Menschen mit Hörbehinderung notwendig sein. SIA 500 Grundsätzliche Anforderungen Die Norm definiert, wie Gebäude hindernis- frei zu gestalten sind. Sie gilt für öffentlich zugängliche Bauten, Wohnbauten (ab einer gewissen Anzahl Wohneinheiten) sowie Bauten mit Arbeitsplätzen. MB 026 Treppen und Podeste Die richtige Höhe, Breite, Gestaltung und Anordnung der Stufen und Podeste macht Treppen auch für Menschen mit Geh- oder Sehbehinderung zugänglich. SIA 358 Geländer und Brüstung Gewisse Situationen können für Menschen mit Behinderung gefährlich sein und müssen deshalb gezielt entschärft werden. MB 150 Rollstuhlgerechte Ladeplätze Hindernisfreie Ladeplätze bieten ausreichend Manövrierflächen für den Rollstuhl sowie eine genügend grosse Durchfahrtbreite. Auch die Anordnung und die Höhe der Bedienelemente werden optimiert. SIA 500 Parkplatz Behindertengerechte Parkplätze sind überbreit, damit für das Wechseln vom Auto in den Rollstuhl und umgekehrt sowie das Manövrieren genügend Raum zur Verfügung steht. Ein Gebäude ohne Hindernisse Barrieren können nicht nur baulicher, sondern auch optischer oder akustischer Natur sein. Damit ein Haus wirklich allen Personen offensteht, müssen zahlreiche Punkte berücksichtigt werden. Die wichtigsten finden Sie hier abgebildet. Verbindlich sind die Normen SIA 181/358, die SN EN 81-20/12464-I/640 852 sowie die VKF-Brandschutzrichtlinie BSR 23-15 de. Fakultativ sind die Merkblätter der Fachstelle Hindernisfreie Architektur (MB 010, 011, 035, 114, 150). TEXT Michael Staub INFOGRAFIK aformat HINDERNISFREIES BAUEN

9 next floor 1 / 22 MB 035 Möblierung mit Tisch Unterfahrbare Tische mit ausreichend Fläche sind ebenso wichtig wie ausreichende Flächen für die Durchfahrt und das Manövrieren mit dem Rollstuhl. SN EN 12464-I Beleuchtung Eine ausreichende Beleuchtung schafft Orientierung und Sicherheit und ermöglicht das ermüdungsfreie Arbeiten. MB 010 / MB 011 SIA 500 WC / Duschräume Die richtige Dimensionierung und Gestaltung der Sanitär- räume macht sie auch für Rollstuhlfahrende mit oder ohne Begleitpersonen zugänglich. SIA 500 Türen / Schwellen Möglichst tiefe oder ganz fehlende Schwellen sind mit oder ohne Rollstuhl leichter zu überwinden. Leichtgängige Türen, idealerweise motorisiert, verlangen keine Kraft. BSR 23-15 de Brandschutz Auch Alarmknopf und Liftnotruf müssen durch- dacht gestaltet und gut erreichbar sein. EN 81-70 / SIA 500 Aussentableau Möglichst hohe Hell-DunkelKontraste, Reliefschriften und allenfalls eine Unterstützung für Menschen mit Hörbehinderung erleichtern die Bedienung. SIA 500 Hauptzugang Rampen statt Stufen, Schiebe- statt Flügeltüren sowie einfach zu erreichende und zu bedienende Gegensprechanlagen erleichtern den Zugang. SN 640 852 / MB 114 Leitlinien Taktil-visuelle Leitlinien machen das Gebäude und seine Zugänge für Menschen mit Sehbehinderungen zugänglicher. SN EN 81-20 / SIA 500 Aufzug Ausreichend grosse Aufzugs- kabinen erleichtern den Zugang mit Rollstuhl, Gehhilfe und/oder Begleitperson sowie das Manövrieren.

10 next floor 1 / 22 Barrierefreiheit beginnt im Kopf Eigentlich wissen sie sich ganz gut selber zu helfen: Doch Menschen mit einer Beeinträchtigung stossen im Alltag immer wieder an ihre Grenzen. Das liegt oft daran, dass wir als Gesellschaft noch zu wenig sensibilisiert sind für ihre Anliegen. Diese zu erkennen, ist allerdings auch nicht ganz einfach. Was hilft? Gegenseitiges Verständnis, meinen Betroffene. TEXT Christoph Zurfluh BILD Beat Brechbühl IM PORTRÄT

11 next floor 1 / 22 Die Brille täuscht. Daniela Moser benötigt sie nicht zum Sehen. Sie schützt damit ihre Augen. Oder besser: das bisschen Augenlicht, das ihr nach 30 Operationen bis zum Alter von fünf Jahren noch übrigblieb – 0,001 Prozent! So wenig sieht die 29-Jährige heute auf dem rechten Auge; das linke ist blind. Doch damit kann sie Schatten und Farben erkennen, einen Fussgängerstreifen zum Beispiel als grosse gelbe Fläche. Das helfe zur Orientierung, sagt sie. Immerhin. Daniela Moser ist ein positiver Mensch. Dass sie mit einer Erbkrankheit geboren wurde, die sie praktisch blind machte, sei für ihre Eltern schlimmer gewesen als für sie. Sie hat schnell gelernt, sich durchzusetzen und sich hohe Ziele zu stecken. Heute geht sie mit einem Guide Ski fahren oder joggen und singt in verschiedenen Chören. «Ich habe ein gutes Umfeld, einen spannenden Beruf und viele gute Wegbegleiter», sagt sie. «Ich bin zufriedenmit meiner Welt.» Daniela Moser besuchte die Blindenschule in Zollikofen, wo sie zusätzlich zum üblichen Schulstoff auch in den Fächern «Orientierung und Mobilität» sowie «Lebenspraktische Fähigkeiten», also etwa Putzen, Kochen oder Päckli machen, ausSeit ihrer Geburt ist die Bernerin praktisch blind, doch sie lässt sich im Alltag deswegen kaum behindern. Bauliche Massnahmen helfen ihr. Noch wichtiger sei aber die Sensibilisierung der Öffentlichkeit, sagt sie. Deshalb arbeitet sie als Lobbyistin für die Anliegen der Sehbehinderten. DANIELA MOSER Glücklich mit wenig Sehvermögen gebildet wurde. Nach zehn Schuljahren, erinnert sie sich, werde man dann allerdings ins Wasser geworfen: «Entweder du kannst schwimmen oder nicht.» Sie konnte es. Daniela Moser machte das KV, besuchte die Berufsschule mit Sehenden und schloss ihre Ausbildung mit der Berufsmatura ab. Der zeitliche Aufwand sei allerdings riesig gewesen, erinnert sie sich. Heute arbeitet sie in der Interessenvertretung des Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverbands SBV, wo sie sich für die Anliegen der 530 000 Schweizerinnen und Schweizer mit einer Sehbehinderung starkmacht, etwa für die Zugänglichkeit von Finanzdienstleistungen und Zahlterminals oder für die optimale Ladengestaltung. Denn der Alltag steckt voller Hindernisse. Die erste richtige Herausforderung des Tages beginnt für Daniela Moser, die in einem Bauernhaus auf dem Land lebt, mit dem Arbeitsweg. Das Problem dabei ist nicht die Orientierung. Sie muss den Kopf während fünf Viertelstunden voll bei der Sache haben. Geschieht etwas Unvorhergesehenes, muss sie schnell handeln. «Muss ich unplanmässig umsteigen, brauche ich dringend jemanden, der mir hilft», sagt sie. «Bin ich die Letzte im Wagen, habe ich verloren.» Ist Daniela Moser unterwegs, hat sie den weissen Stock dabei, als Orientierungshilfe und sichtbares Zeichen für ihre Sehbehinderung. Doch vielen Menschen ist nicht bewusst, was das bedeutet. So ist das Handzeichen eines Autofahrers zwar freundlich gemeint, aber sinnlos, weil sie es ja nicht sieht. Hält ein Auto zudem nicht vollständig an, kann sie die Strasse nicht überqueren, weil sie vom Motorengeräusch her nicht abschätzen kann, wie schnell es noch unterwegs ist. Kehrichtsäcke auf den taktilvisuellen Markierungen zwingen sie derweil zu gefährlichen Umwegen. Sie sagt: «Mein Arbeitstag ist erst dann zu Ende, wenn ich am Abend die Wohnungstür hinter mir zumache. Teilweise ziemlich erschöpft.» Meist aber auch zufrieden mit sich und der Welt. «Denn», so erzählt sie, «man kann auch glücklichwerden, ohne zu sehen.» Ihr Lächeln ist der beste Beweis. «Ich habe ein gutes Umfeld, einen spannenden Beruf und viele gute Wegbegleiter. Ich bin zufrieden mit meiner Welt.» Daniela Moser erzählt, was für blinde Personen bei einem Aufzug zentral ist.

12 next floor 1 / 22 Mehr geht nicht: 2021 gewinnt Marcel Hug an den Paralympics in Tokio viermal Gold – eine Medaille in jeder Disziplin, in der er startet. Über 1500 Meter stellt er einen neuen Weltrekord auf. Es ist nicht der letzte des Jahres. Am Oita-Marathon von Japan folgt schon der nächste. In dieser Disziplin brilliert er ohnehin am laufenden Band. In Berlin, London, Boston und New York heisst der Sieger 2021 Marcel Hug. Wie macht er das nur? «Ich habe sehr gute Voraussetzungen», erklärt er. Er meint damit seinen Körper: langer Torso, lange Arme. Doch das allein genügt nicht. Sein Training unterscheidet sich kaum von dem eines «ganz normalen» Spitzensportlers. Zweimal täglich. Stundenlang. «Anders ist es imWinter», sagt er, «da wir die Beine nicht bewegen, müssen wir, um uns nicht zu erkälten, schneller zurück an dieWärme als die Fussgänger.» Fussgänger? Ein überraschender Begriff für Spitzenathleten, die gehen können. Aber genau das ist es, was den Unterschied zwischen ihnen und Marcel Hug ausmacht. Seine Beine konnte er schon als Kind nicht bewegen. Marcel Hug kam mit offenem Rücken zur Welt. Mit acht Jahren sass er erstmals in einem Rollstuhl, mit zehn entdeckte er seine Leidenschaft für die Leichtathletik und machte sein erstes Ren- «Swiss Silver Bullet» wird Marcel Hug in Sportkreisen augenzwinkernd genannt. Mit gutem Grund: Keiner ist schneller als der Rollstuhlrennfahrer aus dem thurgauischen Pfyn. Doch selbst der sportliche Überflieger landet im Alltag hin und wieder auf dem Boden der Realität. Erst dann fühle er sich tatsächlich behindert, sagt er. MARCEL HUG Überflieger mit Bodenhaftung nen. Hier traf er Paul Odermatt, der als Trainer in Nottwil – dem «Magglingen der Rollstuhlsportler» – arbeitete und ihn bis heute coacht. Von da an gab es in seiner Karriere nur noch eine Richtung: steil aufwärts. Marcel Hug absolvierte die Sportschule Thurgau und in Luzern das Sportler- KV. Daneben gewann er ein Rennen nach dem anderen: Schweizermeisterschaften, Europa- und Weltmeisterschaften, Paralympics. Und es gab kaum eine Auszeichnung, die er nebenbei nicht einheimste: Marcel Hug wurde zum Newcomer des Jahres und zur Thurgauer Sportlegende. 2022 kürte ihn die Jury bei den Laureus World Sports Awards in Sevilla zum zweiten Mal zum Weltbehindertensportler des Jahres, in seiner Heimatgemeinde ist er längst Ehrenbürger. Im thurgauischen Pfyn ist man stolz auf ihn. In der Parasportszene ist er eine Ausnahmeerscheinung. Wir fragen: Fühlt man sich überhaupt noch behindert, wenn man schlichtweg alles erreicht hat, was man in seiner Disziplin erreichen kann? «Eigentlich nicht», sagt Marcel Hug spontan. «Für mich ist es normal, wie ich lebe. Allerdings …» Es gibt eben doch ein Aber. Im Alltag wird auch ein Spitzensportler wie er immer wieder mit Hindernissen konfrontiert. Während er über Absätze wie Trottoirränder und Schwellen noch meist mit einem Lächeln hinwegrollt, sind auch ihm immer wieder Grenzen gesetzt. «Fenster putzen, Boden aufnehmen, etwas Schweres aufheben, reisen …» Es sind die alltäglichen Dinge, die ihn an sein Handicap erinnern. Behindern lässt er sich dadurch aber nicht. «Wenn ich Hilfe brauche, frage ich einfach», sagt er. Auch wenn er es als mühsam empfindet, dass er jedes Mal abklären muss, ob ein Zug rollstuhlgängig ist, und dass er oft grosse Umwege fahren muss, um an einen Ort zu gelangen, sind es selten die physischen Hindernisse, über die er sich ärgert. Denn grundsätzlich sei in den letzten Jahren sehr viel für die Barrierefreiheit gemacht worden. Ein Türöffner im wahrsten Sinne des Wortes ist da beispielsweise der «Euroschlüssel», der europaweit in die Schlösser spezieller Behindertentoiletten passt. Mehr Mühe bereitet ihm die Tatsache, dass der Behindertensport nach wie vor weniger ernstgenommen wird und Leistungen nicht gleich bewertet werden. «Wir wollen weder bemitleidet noch über den Klee gelobt werden», sagt er. «Wir möchten einfach dieselbe Anerkennung.» Mehr Sensibilität im Umgang mit Menschen mit einer Beeinträchtigung zu entwickeln, braucht Zeit. Doch es sind die kleinen Dinge, die zählen. Etwa, beim Plaudern mit einer Person im Rollstuhl auf Augenhöhe zu gehen und nicht von oben herab zu sprechen. Allein die Formulierung zeigt, wo das Problem liegt. IM PORTRÄT

13 next floor 1 / 22 «Wenn ich Hilfe brauche, frage ich einfach.»

14 next floor 1 / 22 «Man muss das Alter annehmen, das ist besser als Jammern.» IM PORTRÄT

15 next floor 1 / 22 Eine unbeschwerte Jugend hatte Anny Koch weiss Gott nicht. Als sie 14 Jahre alt ist, stirbt ihr Vater, den sie nie anders als krank gesehen hat, erst 48-jährig. Der kleine Bauernhof in Aristau – zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben – reicht nicht, um die Familie zu ernähren. Die Mutter arbeitet deshalb in der Strohindustrie im aargauischenWohlen. Die Grossmutter hilft mit im Haushalt. Anny verliert den Boden unter den Füssen. Obwohl sie die Bezirksschule besucht, zweifelt sie an ihren Fähigkeiten und hat nicht den Mut, eine Lehre anzufangen. «Mein Selbstvertrauen war weg», erinnert sie sich heute. Anny erhält dank ihrer Mutter ebenfalls eine Stelle als Arbeiterin in der Strohindustrie. Dort fällt die intelligente junge Frau schnell auf. Sie wird von ihrem Chef gefördert und macht eine Anlehre im Büro. Allmählich gewinnt sie ihr Selbstvertrauen zurück und die Freude am Leben. Mit 24 Jahren heiratet sie Alfons Koch und bekommt zwischen 1958 und 1971 sechs Kinder. Sie sind ihr grösstes Glück. 1966 baut das Paar «ohne Geld» ein Haus. Der Architekt legt ihnen dringend ans Herz, auf Rollstuhlgängigkeit zu achten. «Ihr Die schwierigste Zeit in ihrem Leben hat die 89-jährige Anny Koch derweil in ihrer Jugend erlebt. Der frühe Tod ihres Vaters hat sie heillos überfordert. So sind die Barrieren, denen sie nun im Alter begegnet, für sie kaum ein Thema. Sie sagt: «Man muss das Alter annehmen.» Dasselbe gelte auch für die Hilfe, auf die sie zunehmend angewiesen sei. werdet mir einmal dankbar sein», sagt er. Und genau das sind sie heute. Denn wäre demnicht so, hätten sie wohl längst aus ihrem kleinen Paradies an herrlicher Wohnlage im aargauischen Muri ausziehen müssen. Seit Annys Mann vor zwei Jahren einen Herzinfarkt erlitten hat, ist er nämlich an den Rollstuhl gefesselt. Ein Glück, spielt sich das Leben der beiden heute auf einer Etage ab, auf der sämtliche Räume schwellenfrei zugänglich sind. Doch Anny Kochs Alltag hat sich in den letzten Jahren massiv verändert. Wie denn ein ganz normaler Tag bei ihr aussehe, wollen wir wissen. «Immer wieder anders», sagt sie nachdenklich. «Mit einem kranken Mann kann man nicht planen.» Ein Fixpunkt ist einzig das Frühstück. Danach kümmert sie sich umHaushalt und Garten, soweit das noch möglich ist. Denn die Kräfte lassen nun mal nach im Alter. So hat die 89-Jährige seit kurzem auch nicht mehr die Energie, ihren Mann rund um die Uhr zu betreuen, was auch aufgrund seiner Altersschwäche nötig ist. Nun macht es ihre 24-Stunden-Hilfe, eine 66-jährige Frau aus der Slowakei, möglich, dass die Kochs in ihrem Haus bleiben können. «In ein Heim zu gehen, kommt für uns nicht in Frage», sagt Anny Koch und verzichtet dafür lieber auf die eine oder andere Annehmlichkeit. Dass sie schon früh gelernt hat, das Beste aus einer Situation zu machen, kommt ihr heute wohl zugute. So macht es ihr keine Mühe, dass sie zunehmend auf Hilfe angewiesen ist. Seit einiger Zeit benutzt sie für den Gang ins Dorf einen Rollator, bei Problemen mit der Digitalisierung helfen die Enkel und im Garten eine Bekannte. Hilfe anzunehmen, sagt sie, sei doch eigentlich ganz einfach. Schwieriger sei eher, Hilfe zu erhalten. Und so schenkt sie auch den Barrieren, von denen sich im Alter immer mehr auftun, keine besondere Beachtung. «Man muss das Alter annehmen», sagt sie. «Das ist besser als Jammern.» Man könnte auch sagen: Man muss das Leben annehmen. Genau das nämlich hat Anny Koch getan – und ist daran gewachsen. Am meisten stolz sei sie heute darauf, dass sie ihre Minderwertigkeitsgefühle überwunden habe und mit 89 Jahren eine innere Zufriedenheit spüre, wenn sie auf ihr Leben zurückblicke. «Darauf kommt es doch an, oder?», sagt siemit einemLächeln. «Hilfe anzunehmen ist doch eigentlich ganz einfach. Schwieriger ist eher, Hilfe zu erhalten.» ANNY KOCH Kein Grund zum Jammern

16 next floor 1 / 22 Ihre Mission: ein Aufzug für sämtliche Bedürfnisse EIN DESIGN FÜR ALLE

17 next floor 1 / 22 Den weitaus grössten Teil unserer Lebenszeit verbringen wir in Gebäuden. Deshalb ist die problemlose Mobilität innerhalb der Bauten besonders wichtig. Denn wer allein unterwegs sein kann, kann ungehindert am Leben teilnehmen – wer hingegen beständig auf Hilfe und Unterstützung angewiesen ist, wird in seiner Selbstständigkeit massiv eingeschränkt. Um den Aufzug möglichst einfach, barrierefrei und für alle Menschen uneingeschränkt nutzbar zu machen, hat Schindler Schweiz vor eineinhalb Jahren die Arbeitsgruppe «Design for All» ins Leben gerufen. Deren Leiterin Elisabeth Köpfli-Roth skizziert das Ziel wie folgt: «Für uns steht der Mensch im Mittelpunkt. Als wichtiger Akteur im Baubereich streben wir danach, dass unsere Produkte für alle zugänglich und sicher nutzbar sind. Dazu nutzen wir unsere Innovationskraft sowie neue Technologien und beziehen Betroffene mit ein.» Aktive Zusammenarbeit Die Zugänglichkeit von Aufzügen wird unter anderem in der Norm SN EN 81-70 beschrieben (Siehe Seite 8/9). Solche Normen regeln viele, aber längst nicht alle Punkte. «Es ist mir schon passiert, dass ich mit den Rädern meines Rollstuhls in der Lücke zwischen Schachttür und Kabine hängengeblieben bin. Solche Probleme erkennt man nur beim Praxistest. Nun können wir uns überlegen, wie das Problem zu entschärfen ist», sagt Ian Eldøy, Assistent Field Quality & Excellence und Mitglied der Arbeitsgruppe. Eine praxistaugliche Lösung käme nicht nur Menschen im Rollstuhl oder mit einem Rollator zugute, sondern auch Unternehmen, die den Aufzug für Kleinroboter oder Transportwagen nutzen. Eine weitere Erkenntnis aus den Praxistests, für die Schindler sowohl Menschen mit einer Gehbehinderung als auch einer Seh- oder Hörbehinderung einlädt: Die Norm lässt Spielräume bei der Ausführung und der Anordnung gewisser Elemente zu. «Diese Leerstellen bieten aus unserer Sicht auch Raum für neue Möglichkeiten. Wir können uns zum Beispiel vorstellen, anstelle eines Spiegels eine Kamera und einen Bildschirm zu nutzen. Wichtig ist ja nicht der Spiegel an sich, sondern das Bedürfnis, mit dem Rollstuhl sicher und rückwärts aus der Kabine zu gelangen», sagt Frankie Schmid. Als Head Global New Installations unterstützt er die Arbeitsgruppe aktiv und bringt die Erkenntnisse auf Konzernstufe ein. «So erhält das Thema das richtigeGewicht», erläutert Frankie Schmid, «denn sowohl als Arbeitgeber wie als Unternehmen setzen wir uns stark für Inklusion ein.» Fühlbar anders Ein weiteres Mitglied der Arbeitsgruppe ist Marcel Ackermann, Projektleiter Spezialanlagen. Er ist Miterfinder des «Haptic Touch Panel». Dieses multisensorische Tableau ist auch für Menschen mit Seh- oder Hörbehinderung zugänglich und wurde 2020 mit der «Canne blanche» ausgezeichnet, dem Anerkennungspreis von SZBLIND. «Um herauszufinden, wie sich Menschen mit Behinderung bei der Bedienung verhalten, haben wir das Panel von vielen unterschiedlichen Personen testen lassen. So konnten wir verstehen, was es für eine intuitive Anwendung braucht», sagt Marcel Ackermann. Das von BrailleElementen umfasste Bedienpanel bietet eine Zehnertastatur im vertrauten Layout und mit hoher Blendfreiheit. Die TouchOberfläche erkennt aufgrund der Fingerbewegungen sofort, ob die Sehkraft der bedienenden Person eingeschränkt ist. In diesem Fall werden die Tastenbegrenzungen fühlbar und jede Aktion löst eine haptische und akustische Rückmeldung aus. Noch ist das Haptic Touch Panel nicht marktreif. Die Innovationsabteilung/New Technologies bei Schindler entwickelt es derzeit weiter und nutzt das Wissen für weitere Projekte. Für die Mobilität im Gebäude ist der Aufzug unverzichtbar. Damit ihn alle Menschen nutzen können, müssen viele Details stimmen. Bei Schindler setzt sich die Arbeitsgruppe «Design for All» für dieses Ziel ein. TEXT Michael Staub BILD Beat Brechbühl und Schindler Die Arbeitsgruppe «Design for All»: Elisabeth Köpfli-Roth, Ian Eldøy, Frankie Schmid und Marcel Ackermann (v. l.) Die Touch-Oberfläche erkennt aufgrund der Fingerbewegungen sofort, ob die Sehkraft der bedienenden Person eingeschränkt ist. In diesem Fall werden die Tastenbegrenzungen fühlbar und jede Aktion löst eine haptische und akustische Rückmeldung aus. c

18 next floor 1 / 22 Um besser zu verstehen, welche Bedürfnisse die Benutzerinnen und Benutzer haben und wie diese optimal abgedeckt werden können, vernetzt sich die Arbeitsgruppe mit betroffenen Menschen, mit Organisationen und Verbänden. Gute und regelmässige Kontakte gibt es etwa zur Fachstelle Hindernisfreie Architektur, zum Schweizer Paraplegiker-Zentrum in Nottwil oder zur Behindertenorganisation Procap. «Wir wollen Betroffene zu Beteiligten machen, indem wir lernen, ihre Perspektive einzunehmen und uns auf ihre Bedürfnisse zu fokussieren», sagt Elisabeth Köpfli-Roth. Diese Gespräche, Beobachtungen und Feldtests enthüllten Herausforderungen, dieman imnormalen Alltag nicht erkennen könne, sagt Marcel Ackermann: «Nicht alle Menschen können ein Kabinentableau mit ihren Händen bedienen. Manche Tetraplegikerinnen verwenden zum Beispiel ihren Kopf, um den Aufzug zu rufen. Das realisiert man nicht am Schreibtisch, sondern nur, wenn man diesen Menschen im Alltag begegnet und sie begleitet.» Eine App ruft den Lift Eine Alternative zu herkömmlichen Ruftasten und Tableaus kann das Smartphone sein. Mit der Schindler-App «ElevateMe» wird das Telefon gewissermassen zumLiftboy in der Hosentasche. Denn die App ermöglicht den berührungsfreien Etagenruf für praktisch alle Schindler-Aufzüge. «Via App oder Sprachbefehl kann ich den Aufzug an meine Haltestelle holen und damit ins gewünschte Stockwerk fahren. Dazumuss ichweder auf demAussen- noch auf dem Innentableau einen einzigen Knopf berühren», erläutert Julian Stähli, Head Product Management bei Schindler Schweiz. Im Zug der Corona-Pandemie als hygienische und berührungsfreie Alternative zum Tastendrücken lanciert, könnte «ElevateMe» in Zukunft auch fürMenschen mit Behinderungen ein nützliches Hilfsmittel werden. «Dieses und weitere Themen wollen wir künftig intensiver erforschen», sagt Elisabeth Köpfli-Roth. Denn solche digitalen Helfer seien ein Wunsch von betroffenen Personen. In eine ähnliche Richtung geht die PORTTechnologie. Sie schleust Personen nahtlos durch ein Gebäude – vom Haupteingang über den Aufzug bis in dieWohnung. Dabei forscht das Unternehmen auch an einer speziellen Wohnungseingangstür. Die Tür kann mit einer Videogegensprechanlage, einem Kartenleser oder einem konventionellen Schloss ausgerüstet werden. Via Schindler-App oder Gesichtserkennung kann sie komplett berührungsfrei geöffnet werden. «So können wir Gebäude mit einer einzigen Zutrittslösung erschliessen. Vom Eingang über den Aufzug bis zur eigenen Wohnung ist alles aus einem Guss und barrierefrei», erklärt Florian Trösch, Head GLP Transit Management bei Schindler. EIN DESIGN FÜR ALLE Mit «ElevateMe» wird der Aufzug per App gerufen (oben links). Bei der Schindler Port-4D-Lösung wird das Smartphone zum Haustürschlüssel (oben rechts). Beim Haptic Touch Panel werden die Tasten fühlbar (unten). c

19 next floor 1 / 22 Schindler lebt Vielfalt und Inklusion Die Schindler Aufzüge AG engagiert sich nicht nur für das Thema «Design for All», sondern ist besorgt, Vielfalt und Inklusion auch intern zu leben. Dazu gibt es diverse Initiativen, Projekte und Partnerschaften. Beispielsweise hat Schindler verschiedene Integrationsarbeitsplätze für Personen geschaffen, deren Arbeitsfähigkeit aufgrund physischer oder psychischer Probleme eingeschränkt ist. Finanziert werden diese zusammen mit der IV. Im Projekt Integra integriert Schindler zusammen mit der Stiftung Brändi Menschen mit Behinderung in die Arbeitswelt. Seit einem Jahrzehnt arbeiten so 15 Personen von Brändi bei Schindler. Weiter ist das Unternehmen etwa Hauptpartner der Schweizer Tafel, Sponsor von Swiss Paralympic sowie Gründungsmitglied des Zentralschweizer Netzwerks «Unternehmen mit Verantwortung». Für Menschen gemacht Bei der Planung und Installation einer Aufzugsanlage gibt es zahlreiche technische, gesetzliche, wirtschaftliche und optische Anforderungen. Diese zu erfüllen und zusätzlich die Hindernisfreiheit im Kopf zu behalten, ist nicht ganz einfach. «Es braucht ein Umdenken und eine Sensibilisierung durch interne Kommunikation und Aufklärung. Da sind wir dran. Unsere Arbeitsgruppe wird bereits in der Entwicklungsphase einbezogen, damit die Bedürfnisse von Menschen mit Einschränkungen frühzeitig berücksichtigt werden können. Das ist der richtige Ansatz», sagt Frankie Schmid. Wie soll der Aufzug der Zukunft aussehen? Es brauche nicht immer revolutionäre Neuerungen, sondern sinnvolle Lösungen, meint Ian Eldøy: «Ich wäre oft schon froh, wenn es einen Konsens gäbe, wo das Tableau platziert wird. Es ist recht umständlich, wenn ich mich in jedem einzelnen Aufzug zuerst orientieren muss, bevor ich ihn überhaupt bedienen kann.» Und Elisabeth Köpfli-Roth ergänzt: «Die Bedürfnisse der Menschen sind sehr unterschiedlich. Manche brauchen mehr Zeit, um die Kabine zu betreten, andere benötigen Unterstützung bei der Bedienung. Wenn wir uns die Erfahrungen dieser Menschen zunutze machen und eine möglichst breite Anwendbarkeit unserer Produkte anstreben, leisten wir einen enormen Beitrag zur gesellschaftlichen Inklusion und Vielfalt.» Im Zug der Corona-Pandemie als hygienische und berührungsfreie Alternative zum Tastendrücken lanciert, könnte «ElevateMe» in Zukunft auch für Menschen mit Behinderungen ein nützliches Hilfsmittel werden.

20 next floor 1 / 22 IM GESPRÄCH

21 next floor 1 / 22 Frau Schmidt, wie hindernisfrei ist die Schweiz heute? Im Vergleich mit dem Ausland stehen wir meiner Meinung nach recht gut da. In den letzten 20 Jahren gab es enorme Fortschritte. Gerade bei der Mobilität hat das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) von 2004 viel bewirkt. Neubauten stellen nur selten Probleme dar, doch der grösste Teil des Schweizer Gebäudeparks besteht aus älteren Bauten. In diesem Bestand geht die Veränderung viel langsamer voran. Deshalb stellen alltägliche Situationen wie ein Kino- oder Restaurantbesuch für viele Menschen mit Behinderung immer noch eine Schwierigkeit dar. Welche baulichen Hindernisse sind das konkret? Es gibt Städte mit vielen HochparterreBauten. Bis man überhaupt ins Gebäude gelangt, müssen schon verschiedene Stufen überwunden werden. Bei bestehenden Bauten ist der Platz meist beschränkt und fehlt etwa für den Einbau einer Rampe oder eines grösseren, normgerechten Aufzugs. Ihre Fachstelle arbeitet am Abbau solcher Hindernisse. Was tun Sie? Wichtig sind praxisgerechte Normen und Richtlinien. Deshalb erarbeiten wir Grundlagen zum hindernisfreien Bauen, publizieren Planungshilfen und wirken in verschiedenen Normenkommissionen mit. Wir erforschen die konkreten Erfahrungen von behinderten und älteren Menschen, formulieren Anforderungen und übertragen diese in die ‹Planungssprache›.» So verstehen Planerinnen und Architekten, was notwendig ist. Besonders wichtig sind uns auch Anwendungsbeispiele. Denn Kommentare und konkrete Beispiele machen eine Norm erst fassbar. Wer kümmert sich um die Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben? In der Schweiz haben wir ein Netz von 26 kantonalen Fachstellen, die die Interessen von Menschen mit Behinderung beim Vollzug des hindernisfreien Bauens vertreten. Sie prüfen die Bauprojekte, leisten Beratungsarbeit und helfen bei der Suche nach Lösungen. Diese Organisation hat sich sehr bewährt. Es gibt punktuell auch Einsprachen, doch das Verbandsbeschwerderecht muss nur selten genutzt werden. Meistens gelingt es, imDialog mit der Bauherrschaft die Probleme zu lösen. An einem Bauprojekt sind viele verschiedene Parteien beteiligt. Wie aufgeschlossen sind sie für das hindernisfreie Bauen? Da gibt es ganz unterschiedliche Haltungen. Viele Bauherrschaften wollen Gebäude, die für alle Generationen funktionieren, und sind deshalb recht offen für eine hindernisfreie Bauweise. Andere Bauträger sind vor allem kostensensibel. Die Vorgaben für den Brandschutz oder die Erdbebensicherheit lassen sich nicht umgehen – beim hindernisfreien Bauen versuchen sie, dafür zu sparen. Und schliesslich wertet ein Teil der Architektinnen und Architekten die Gestaltungsfreiheit höher als die Hindernisfreiheit. Da müssen wir ab und zu klar machen, dass nicht nur die Ästhetik wichtig ist, sondern auch und zuerst die Benutzbarkeit und Sicherheit von hoher Bedeutung sind. Beim Aufzug sollten gemäss der Normen nur noch rollstuhlgängige Anlagen eingebaut werden. Wird dies in der Praxis tatsächlich so gemacht? Nein, leider werden auch Aufzüge gebaut, die nicht hindernisfrei zugänglich sind, und zwar wegen der komplexen Normensituation. Die kantonalen Baugesetze regeln, welche Gebäude die Norm SIA 500 ein- «Wir erforschen die konkreten Erfahrungen von behinderten und älteren Menschen, formulieren Anforderungen und übertragen diese in die «Planungssprache». «Hindernisfreie Gebäude sind für uns alle ein Gewinn» Eva Schmidt leitet die Fachstelle Hindernisfreie Architektur. Die diplomierte Architektin sieht auf dem Weg zur barrierefreien Schweiz viele Fortschritte, aber auch noch einige Baustellen. INTERVIEW Michael Staub BILD Beat Brechbühl c

«Bei individuellen Anpassungen von Aufzügen stellt sich oft die Frage, wer dafür zuständig ist. Hier schätzen wir den unkomplizierten Zugang zu Schindler sehr.» IM GESPRÄCH 22 next floor 1 / 22

23 next floor 1 / 22 halten müssen. Damit ein Aufzug aber auch zugänglich und nutzbar ist, muss er nach der Aufzugsnorm SN EN 81-70 «Zugänglichkeit von Aufzügen» bestellt werden. So ist es möglich, dass in Gebäuden die nicht unter die Norm SIA 500 fallen, zwar ein Aufzug eingebaut wird, dieser aus «gestalterischen Gründen» aber nicht autonom nutzbar ist. Eine ziemlich absurde Situation, wie wir meinen. Welche Rolle spielen in diesem Kontext die Aufzugshersteller? Nach unseren Erfahrungen bemühen sich die Hersteller sehr darum, ihren Kunden die Vorteile hindernisfreier Aufzüge darzulegen. Doch eine grössere Kabine, ein horizontales Tableau, eine Sprachansage oder eine blendfreie Beleuchtung sind kostenpflichtige Extras. Als Kundin muss ich mehr bezahlen, wenn ich eine Anlage will, die für alle Benutzerinnen und Benutzer funktioniert. Das ist, als ob ich beim Auto die Sitzgurte und den Aufprallschutz extra kaufen müsste. Können Treppenlifte eine Lösung sein, wenn jemand wegen einer Behinderung sein Wohnumfeld anpassen muss? Oft sind sie die Lösung, die sich am schnellsten realisieren lässt. Wir sind aber der Meinung, dass ein Treppenlift immer eine Notlösung darstellt. Denn von einem Vertikalaufzug profitieren alle Benutzerinnen und Benutzer einer Liegenschaft, nicht nur Menschen mit Behinderung. Seit 2020 gibt es einen regelmässigen Austausch zwischen Ihrer Fachstelle und dem «Design for All»-Team von Schindler. Was schätzen Sie daran? Das Bewusstsein, mit dem Schindler an das Thema herangeht. Solche Kontakte ermöglichen uns, grundlegende Fragen zur Hindernisfreiheit von Standardprodukten vorzubringen. Bei individuellen Anpassungen von Aufzügen stellt sich oft die Frage, wer dafür zuständig ist. Hier schätzen wir den unkomplizierten Zugang zu Schindler sehr. Ebenso können wir Rückmeldungen aus dem Alltag von Menschen mit Behinderung einspeisen. So können die Fachleute bei Schindler besser verstehen, auf welche Probleme Menschen mit Behinderung stossen und wie man den Aufzug für sie noch besser gestalten könnte. Wie geht es mit dem hindernisfreien Bauen weiter? Die demografische Entwicklung ist ein starker Treiber, insbesondere imWohnungsbau. Weil der Anteil älterer Menschen beständig steigt, müssen die Wohnungen für möglichst alle Generationen nutzbar sein. Das Konzept der Fachstelle zum anpassbaren Wohnungsbau ist mittlerweile bei den Bauherrschaften angekommen. Zudem hat die Bauindustrie grosse Fortschritte gemacht. Vieles, was vor 20 Jahren noch eine teure Spezialanfertigung war, ist heute Standard. Ich denke da zum Beispiel an schwellenlose Übergänge oder begehbare Duschen. Hindernisfreie Bauten sind für uns alle ein Gewinn, unabhängig von unserem Alter und möglichen Einschränkungen. Zur Person Eva Schmidt ist diplomierte Architektin ETH. Sie arbeitet seit 1995 bei der Schweizer Fachstelle Hindernisfreie Architektur (bis 2017 Schweizerische Fachstelle für behindertengerechtes Bauen). Dort hat Schmidt den Fachbereich sehbehinderten- und blindengerechtes Bauen aufgebaut. 2018 übernahm sie die Geschäftsführung der Fachstelle. Als Expertin hat sie aktiv an nationalen und internationalen Normen zum hindernisfreien Bauen mitgearbeitet. Eva Schmidt ist Mutter von drei erwachsenen Kindern und lebt in Aarau. c «Als Kundin muss ich mehr bezahlen, wenn ich eine Anlage will, die für alle Benutzerinnen und Benutzer funktioniert. Das ist, als ob ich beim Auto die Sitzgurte und den Aufprallschutz extra kaufen müsste.»

24 next floor 1 / 22 TRAINING UND AUSBILDUNG

25 next floor 1 / 22 «Unsere Klientinnen und Klienten sind eigentlich Hochleistungssportler», sagt Klaus Pistora. «Jeder Tag ist für sie eine wahnsinnige Herausforderung, weil sie sich alles hart erarbeiten müssen.» Und so seien viele von ihnen nach zwei, drei Stunden fix und fertig. Im Gegensatz zu Spitzenathleten üben sie sich allerdings nicht in einer spezifischen Disziplin, um darin einmal obenaus zu schwingen, sondern in der Alltagsbewältigung. «Nichts kommt automatisch», sagt Pistora. «Das ganze Leben ist ein einziges Training.» Klaus Pistora ist Leiter Wohnen Erwachsene in der St. Josef-Stiftung in Bremgarten im Kanton Aargau. Seit über 130 Jahren kümmert sich diese umMenschen mit kognitiven und/oder körperlichen Beeinträchtigungen. Doch das ehemalige «Behindertenheim» der Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Kreuz Ingenbohl ist heute eine hochmoderne Institution mit Wohnmöglichkeiten, heilpädagogischer Schule, ambulanten Angeboten für Kinder und Tagesstätten für Erwachsene, mit Streichelzoo, Parkanlage und öffentlichem Restaurant auf einem Gelände von 50 000 Quadratmetern. Insgesamt 400 Fachpersonen kümmern sich dort um rund 200 Klientinnen und Klienten. Die St. Josef-Stiftung ist ein Kompetenzzentrum der Integration und der Inklusion. Barrieren sind oft im Kopf Dass die verschiedenen Gebäude – das jüngste wurde erst 2016 bezogen – barrierefrei zugänglich sind, versteht sich dabei von selbst. Doch eine vermeintlich hindernisfreie Architektur ist noch lange keine Garantie dafür, dass sich Menschen mit einer Beeinträchtigung darin auch tatsächlich uneingeschränkt bewegen können. «Die Barrieren», erklärt die Sozialpädagogin Andrea Galizia, «liegen weniger im Baulichen. Sie sind viel öfter im Kopf der Betroffenen.» Diese Barrieren abzubauen, ist ihr Job. Andrea Galizia unterrichtet eine Klasse von acht Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren mit unterschiedlichen, oft mehrfachen Beeinträchtigungen. Zuoberst auf ihrem Stundenplan stehen deshalb nicht Mathematik, Deutsch oder Geschichte, wichtigstes Lernziel ist das Erreichen grösstmöglicher Selbstständigkeit. Es gehe darum, sagt sie, einen sicheren Rahmen für das Erlernen jener Voraussetzungen zu schaffen, die ihnen Orientierung und Hilfe im Alltag geben. Dazu gehören beispielsweise soziale Regeln: Wie verhalte ich mich anderen gegenüber? Oder auch das Lesen von Piktogrammen – eine Sprache, die gelernt werden muss, auch wenn sie nicht gesprochen wird. Jeden Donnerstagmorgen ist die bunte Truppe mit Lamas unterwegs: Das Festhalten der Tiere gibt ihnen Kraft, um im Alltag selbstständig mit den Händen zu arbeiten – dann beispielsweise, wenn es darumgeht, eine PET-Flasche oder ein Türschloss zu öffnen. Das Führen fördert gleichzeitig die Geschicklichkeit, etwa bei der Koordination der Füsse beim Laufen. Selbst Dinge wie das Liftfahren – als Inbegriff der Barrierefreiheit – sind keine Selbstverständlichkeit und müssen geübt werden. Es reicht nicht, die Drücker auf der richtigen Höhe zu positionieren, manmuss sie auch betätigen können. Oder überhaupt erst den Mut aufbringen, in den Aufzug einzusteigen, was beispielsweise für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung eine Herausforderung sein kann. Kreativität ist gefragt Der Motor hinter dem Lernprozess ist die Motivation. «Wenn ich etwas will», erklärt Andrea Galizia, «dann bemühe ich mich «Die Barrieren liegen weniger im Baulichen. Sie sind viel öfter im Kopf der Betroffenen.» Andrea Galizia, Sozialpädagogin Den Alltag trainieren Wendigkeit im Rollstuhl, Sicherheit im Umgang mit dem Blindenstock oder Unterstützung in Orientierung und Mobilität: Gezieltes Training kann Menschen mit einer Beeinträchtigung den Alltag erleichtern. Viele von ihnen brauchen aber mehr: ein lebenslanges Üben. Doch wie sieht das aus? Ein Augenschein in der St. Josef-Stiftung in Bremgarten. TEXT Christoph Zurfluh BILD Beat Brechbühl c Sozialpädagogin Andrea Galizia beimMorgenritual mit zwei Schülern und einer Kollegin (oben). Dilyar hat die Post abgeholt (unten).

26 next floor 1 / 22 TRAINING UND AUSBILDUNG

27 next floor 1 / 22 auch darum, es zu erreichen.» Wie das geschieht, ist hingegen individuell. Denn genauso, wie es den Menschen mit Beeinträchtigung nicht gibt, gibt es auch das Training für Menschen mit einer Beeinträchtigung nicht, auch wenn Standardtherapien wie Ergo-, Physio-, Hippo- und Hydrotherapie oder Logopädie zum Angebot gehören. Sehr oft ist darum Kreativität gefragt. Die Sozialpädagogin entwickelt für ihre Schülerinnen und Schüler denn auch laufend neue Strategien und tüftelt mit den Haustechnikern an Hilfsmitteln, die es nicht ab Stange gibt. So fertigten die kreativenHandwerker im«Josef» – so die gängige Bezeichnung für die St. Josef-Stiftung – für einen Jungen mit Muskeldystrophie einen magnetischen Stab an, der an seinem Rollstuhl befestigt ist, nicht zu stark, damit er ihnmit minimalemKraftaufwand wegnehmen kann, aber auch nicht zu schwach, damit er nicht von allein runterfällt. Mit diesem Stab kann der Junge nun die Liftknöpfe drücken. Solange es seine Muskelkraft zulässt. Bedürfnisse sind individuell Genau das ist die nächste Herausforderung: Die Bedürfnisse von Menschen mit einer Beeinträchtigung sind nicht nur ausgesprochen individuell, sie können sich auch ändern. Deshalb sei es beispielsweise auch so schwierig, «allgemeingültig barrierefrei» zu bauen, meint Andrea Galizia. Und hin und wieder komme es sogar vor, dass man unbewusst Barrieren einbaue. So geschehen im neuen Haus Fortuna vor wenigen Jahren. Um einen fensterlosen Verbindungsgang etwas aufzupeppen, wurde über Lautsprecher fröhliches Vogelgezwitscher eingespielt. Das irritierte einen Teil der Menschen mit Beeinträchtigung derart, dass sie die Orientierung völlig verloren. Unsichtbare Vögel im Keller kamen in ihrem AlltagsbewältigungsRepertoire nicht vor und stellten eine Barriere für sie dar. In einem anderen Haus musste eine Holzdecke eingezogen werden, weil der Schall für Menschen mit Hörgeräten unerträglich war. Auch das Umfeld spiele eine zentrale Rolle, ist Andrea Galizia überzeugt. Das heisst? «Meine Jugendlichen brauchen vor allem einen sicheren Rahmen und eine tragende Beziehung. Das äussert sich allerdings unterschiedlich. Während der eine auf Nähe angewiesen ist, um arbeitsfähig zu sein, braucht der andere Raum: Stehe ich beispielsweise im Türrahmen, versperre ich ihm optisch den Weg und behindere ihn in seiner Handlungsfähigkeit. Ichmuss also aus demWeg gehen, damit für ihn der Durchgang frei wird.» Solche Bedürfnisse müssen allerdings erst erkannt werden. Sensorium entwickeln Und hier liegt wohl die grösste Herausforderung: Wir müssen ein Sensorium dafür entwickeln, was für andere Menschen eine Behinderung darstellen könnte, auchwenn es selbst dann nie eine allgemeingültige Lösung gibt. «Du hast immer jemanden, für den es nicht passt», sagt Klaus Pistora. «Aber wenn wir das Augenmerk verstärkt auf die Schwächeren in unserer Gesellschaft richten, dann haben wir automatisch auch mehr Verständnis für ihre Probleme. Eine barrierefreie Architektur wird dann beispielsweise zur Selbstverständlichkeit.» Und was kann ich tun? Menschen mit einer Beeinträchtigung brauchen tendenziell weniger Hilfe, als Aussenstehende annehmen. Denn mit ihrem Handicap umzugehen und den Alltag zu bewältigen, sind sie sich gewöhnt. Sie haben das oft ihr ganzes Leben lang trainiert. Dennoch gibt es ein paar Faustregeln. Verhalten Sie sich natürlich. Begegnen Sie Menschen mit einer Beeinträchtigung so selbstverständlich wie allen anderen. Sie wollen weder Mitleid noch übertriebene Freundlichkeit. Dass sie unter Umständen auffallen, ist Menschen mit einer Behinderung bewusst. Schämen Sie sich also nicht, wenn Sie etwas länger hingeguckt haben. Warten Sie einen Moment. Bieten Sie nicht gleich Hilfe an. Zu schnelles Handeln lässt Betroffene als hilflos erscheinen, was sie selten sind. Ausserdem sind es Menschen mit einer Beeinträchtigung gewohnt, sich Hilfe zu holen. Fragen Sie zuerst. Einen blinden Menschen ungefragt am Arm zu nehmen und über die Strasse zu führen oder sich einfach an einem Rollstuhl zu schaffen zu machen, geht nicht. Fragen Sie, ob die Person Hilfe möchte und verstehen Sie ein Nein nicht als Unhöflichkeit. Seien Sie tolerant. Unsere Gesellschaft ist vielfältig und Andersartigkeit ist ein Teil davon. Es sollte deshalb eine Selbstverständlichkeit sein, Verständnis für das Verhalten von Menschen mit einer Beeinträchtigung zu haben. Es ist normal, dass Menschen aus der Norm fallen. c Ein kurzer Einblick in den Alltag der St. Josef-Stiftung.

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