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12 next floor 1 / 22 Mehr geht nicht: 2021 gewinnt Marcel Hug an den Paralympics in Tokio viermal Gold – eine Medaille in jeder Disziplin, in der er startet. Über 1500 Meter stellt er einen neuen Weltrekord auf. Es ist nicht der letzte des Jahres. Am Oita-Marathon von Japan folgt schon der nächste. In dieser Disziplin brilliert er ohnehin am laufenden Band. In Berlin, London, Boston und New York heisst der Sieger 2021 Marcel Hug. Wie macht er das nur? «Ich habe sehr gute Voraussetzungen», erklärt er. Er meint damit seinen Körper: langer Torso, lange Arme. Doch das allein genügt nicht. Sein Training unterscheidet sich kaum von dem eines «ganz normalen» Spitzensportlers. Zweimal täglich. Stundenlang. «Anders ist es imWinter», sagt er, «da wir die Beine nicht bewegen, müssen wir, um uns nicht zu erkälten, schneller zurück an dieWärme als die Fussgänger.» Fussgänger? Ein überraschender Begriff für Spitzenathleten, die gehen können. Aber genau das ist es, was den Unterschied zwischen ihnen und Marcel Hug ausmacht. Seine Beine konnte er schon als Kind nicht bewegen. Marcel Hug kam mit offenem Rücken zur Welt. Mit acht Jahren sass er erstmals in einem Rollstuhl, mit zehn entdeckte er seine Leidenschaft für die Leichtathletik und machte sein erstes Ren- «Swiss Silver Bullet» wird Marcel Hug in Sportkreisen augenzwinkernd genannt. Mit gutem Grund: Keiner ist schneller als der Rollstuhlrennfahrer aus dem thurgauischen Pfyn. Doch selbst der sportliche Überflieger landet im Alltag hin und wieder auf dem Boden der Realität. Erst dann fühle er sich tatsächlich behindert, sagt er. MARCEL HUG Überflieger mit Bodenhaftung nen. Hier traf er Paul Odermatt, der als Trainer in Nottwil – dem «Magglingen der Rollstuhlsportler» – arbeitete und ihn bis heute coacht. Von da an gab es in seiner Karriere nur noch eine Richtung: steil aufwärts. Marcel Hug absolvierte die Sportschule Thurgau und in Luzern das Sportler- KV. Daneben gewann er ein Rennen nach dem anderen: Schweizermeisterschaften, Europa- und Weltmeisterschaften, Paralympics. Und es gab kaum eine Auszeichnung, die er nebenbei nicht einheimste: Marcel Hug wurde zum Newcomer des Jahres und zur Thurgauer Sportlegende. 2022 kürte ihn die Jury bei den Laureus World Sports Awards in Sevilla zum zweiten Mal zum Weltbehindertensportler des Jahres, in seiner Heimatgemeinde ist er längst Ehrenbürger. Im thurgauischen Pfyn ist man stolz auf ihn. In der Parasportszene ist er eine Ausnahmeerscheinung. Wir fragen: Fühlt man sich überhaupt noch behindert, wenn man schlichtweg alles erreicht hat, was man in seiner Disziplin erreichen kann? «Eigentlich nicht», sagt Marcel Hug spontan. «Für mich ist es normal, wie ich lebe. Allerdings …» Es gibt eben doch ein Aber. Im Alltag wird auch ein Spitzensportler wie er immer wieder mit Hindernissen konfrontiert. Während er über Absätze wie Trottoirränder und Schwellen noch meist mit einem Lächeln hinwegrollt, sind auch ihm immer wieder Grenzen gesetzt. «Fenster putzen, Boden aufnehmen, etwas Schweres aufheben, reisen …» Es sind die alltäglichen Dinge, die ihn an sein Handicap erinnern. Behindern lässt er sich dadurch aber nicht. «Wenn ich Hilfe brauche, frage ich einfach», sagt er. Auch wenn er es als mühsam empfindet, dass er jedes Mal abklären muss, ob ein Zug rollstuhlgängig ist, und dass er oft grosse Umwege fahren muss, um an einen Ort zu gelangen, sind es selten die physischen Hindernisse, über die er sich ärgert. Denn grundsätzlich sei in den letzten Jahren sehr viel für die Barrierefreiheit gemacht worden. Ein Türöffner im wahrsten Sinne des Wortes ist da beispielsweise der «Euroschlüssel», der europaweit in die Schlösser spezieller Behindertentoiletten passt. Mehr Mühe bereitet ihm die Tatsache, dass der Behindertensport nach wie vor weniger ernstgenommen wird und Leistungen nicht gleich bewertet werden. «Wir wollen weder bemitleidet noch über den Klee gelobt werden», sagt er. «Wir möchten einfach dieselbe Anerkennung.» Mehr Sensibilität im Umgang mit Menschen mit einer Beeinträchtigung zu entwickeln, braucht Zeit. Doch es sind die kleinen Dinge, die zählen. Etwa, beim Plaudern mit einer Person im Rollstuhl auf Augenhöhe zu gehen und nicht von oben herab zu sprechen. Allein die Formulierung zeigt, wo das Problem liegt. IM PORTRÄT

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