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15 next floor 1 / 22 Eine unbeschwerte Jugend hatte Anny Koch weiss Gott nicht. Als sie 14 Jahre alt ist, stirbt ihr Vater, den sie nie anders als krank gesehen hat, erst 48-jährig. Der kleine Bauernhof in Aristau – zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben – reicht nicht, um die Familie zu ernähren. Die Mutter arbeitet deshalb in der Strohindustrie im aargauischenWohlen. Die Grossmutter hilft mit im Haushalt. Anny verliert den Boden unter den Füssen. Obwohl sie die Bezirksschule besucht, zweifelt sie an ihren Fähigkeiten und hat nicht den Mut, eine Lehre anzufangen. «Mein Selbstvertrauen war weg», erinnert sie sich heute. Anny erhält dank ihrer Mutter ebenfalls eine Stelle als Arbeiterin in der Strohindustrie. Dort fällt die intelligente junge Frau schnell auf. Sie wird von ihrem Chef gefördert und macht eine Anlehre im Büro. Allmählich gewinnt sie ihr Selbstvertrauen zurück und die Freude am Leben. Mit 24 Jahren heiratet sie Alfons Koch und bekommt zwischen 1958 und 1971 sechs Kinder. Sie sind ihr grösstes Glück. 1966 baut das Paar «ohne Geld» ein Haus. Der Architekt legt ihnen dringend ans Herz, auf Rollstuhlgängigkeit zu achten. «Ihr Die schwierigste Zeit in ihrem Leben hat die 89-jährige Anny Koch derweil in ihrer Jugend erlebt. Der frühe Tod ihres Vaters hat sie heillos überfordert. So sind die Barrieren, denen sie nun im Alter begegnet, für sie kaum ein Thema. Sie sagt: «Man muss das Alter annehmen.» Dasselbe gelte auch für die Hilfe, auf die sie zunehmend angewiesen sei. werdet mir einmal dankbar sein», sagt er. Und genau das sind sie heute. Denn wäre demnicht so, hätten sie wohl längst aus ihrem kleinen Paradies an herrlicher Wohnlage im aargauischen Muri ausziehen müssen. Seit Annys Mann vor zwei Jahren einen Herzinfarkt erlitten hat, ist er nämlich an den Rollstuhl gefesselt. Ein Glück, spielt sich das Leben der beiden heute auf einer Etage ab, auf der sämtliche Räume schwellenfrei zugänglich sind. Doch Anny Kochs Alltag hat sich in den letzten Jahren massiv verändert. Wie denn ein ganz normaler Tag bei ihr aussehe, wollen wir wissen. «Immer wieder anders», sagt sie nachdenklich. «Mit einem kranken Mann kann man nicht planen.» Ein Fixpunkt ist einzig das Frühstück. Danach kümmert sie sich umHaushalt und Garten, soweit das noch möglich ist. Denn die Kräfte lassen nun mal nach im Alter. So hat die 89-Jährige seit kurzem auch nicht mehr die Energie, ihren Mann rund um die Uhr zu betreuen, was auch aufgrund seiner Altersschwäche nötig ist. Nun macht es ihre 24-Stunden-Hilfe, eine 66-jährige Frau aus der Slowakei, möglich, dass die Kochs in ihrem Haus bleiben können. «In ein Heim zu gehen, kommt für uns nicht in Frage», sagt Anny Koch und verzichtet dafür lieber auf die eine oder andere Annehmlichkeit. Dass sie schon früh gelernt hat, das Beste aus einer Situation zu machen, kommt ihr heute wohl zugute. So macht es ihr keine Mühe, dass sie zunehmend auf Hilfe angewiesen ist. Seit einiger Zeit benutzt sie für den Gang ins Dorf einen Rollator, bei Problemen mit der Digitalisierung helfen die Enkel und im Garten eine Bekannte. Hilfe anzunehmen, sagt sie, sei doch eigentlich ganz einfach. Schwieriger sei eher, Hilfe zu erhalten. Und so schenkt sie auch den Barrieren, von denen sich im Alter immer mehr auftun, keine besondere Beachtung. «Man muss das Alter annehmen», sagt sie. «Das ist besser als Jammern.» Man könnte auch sagen: Man muss das Leben annehmen. Genau das nämlich hat Anny Koch getan – und ist daran gewachsen. Am meisten stolz sei sie heute darauf, dass sie ihre Minderwertigkeitsgefühle überwunden habe und mit 89 Jahren eine innere Zufriedenheit spüre, wenn sie auf ihr Leben zurückblicke. «Darauf kommt es doch an, oder?», sagt siemit einemLächeln. «Hilfe anzunehmen ist doch eigentlich ganz einfach. Schwieriger ist eher, Hilfe zu erhalten.» ANNY KOCH Kein Grund zum Jammern

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