25 next floor 1 / 22 «Unsere Klientinnen und Klienten sind eigentlich Hochleistungssportler», sagt Klaus Pistora. «Jeder Tag ist für sie eine wahnsinnige Herausforderung, weil sie sich alles hart erarbeiten müssen.» Und so seien viele von ihnen nach zwei, drei Stunden fix und fertig. Im Gegensatz zu Spitzenathleten üben sie sich allerdings nicht in einer spezifischen Disziplin, um darin einmal obenaus zu schwingen, sondern in der Alltagsbewältigung. «Nichts kommt automatisch», sagt Pistora. «Das ganze Leben ist ein einziges Training.» Klaus Pistora ist Leiter Wohnen Erwachsene in der St. Josef-Stiftung in Bremgarten im Kanton Aargau. Seit über 130 Jahren kümmert sich diese umMenschen mit kognitiven und/oder körperlichen Beeinträchtigungen. Doch das ehemalige «Behindertenheim» der Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Kreuz Ingenbohl ist heute eine hochmoderne Institution mit Wohnmöglichkeiten, heilpädagogischer Schule, ambulanten Angeboten für Kinder und Tagesstätten für Erwachsene, mit Streichelzoo, Parkanlage und öffentlichem Restaurant auf einem Gelände von 50 000 Quadratmetern. Insgesamt 400 Fachpersonen kümmern sich dort um rund 200 Klientinnen und Klienten. Die St. Josef-Stiftung ist ein Kompetenzzentrum der Integration und der Inklusion. Barrieren sind oft im Kopf Dass die verschiedenen Gebäude – das jüngste wurde erst 2016 bezogen – barrierefrei zugänglich sind, versteht sich dabei von selbst. Doch eine vermeintlich hindernisfreie Architektur ist noch lange keine Garantie dafür, dass sich Menschen mit einer Beeinträchtigung darin auch tatsächlich uneingeschränkt bewegen können. «Die Barrieren», erklärt die Sozialpädagogin Andrea Galizia, «liegen weniger im Baulichen. Sie sind viel öfter im Kopf der Betroffenen.» Diese Barrieren abzubauen, ist ihr Job. Andrea Galizia unterrichtet eine Klasse von acht Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren mit unterschiedlichen, oft mehrfachen Beeinträchtigungen. Zuoberst auf ihrem Stundenplan stehen deshalb nicht Mathematik, Deutsch oder Geschichte, wichtigstes Lernziel ist das Erreichen grösstmöglicher Selbstständigkeit. Es gehe darum, sagt sie, einen sicheren Rahmen für das Erlernen jener Voraussetzungen zu schaffen, die ihnen Orientierung und Hilfe im Alltag geben. Dazu gehören beispielsweise soziale Regeln: Wie verhalte ich mich anderen gegenüber? Oder auch das Lesen von Piktogrammen – eine Sprache, die gelernt werden muss, auch wenn sie nicht gesprochen wird. Jeden Donnerstagmorgen ist die bunte Truppe mit Lamas unterwegs: Das Festhalten der Tiere gibt ihnen Kraft, um im Alltag selbstständig mit den Händen zu arbeiten – dann beispielsweise, wenn es darumgeht, eine PET-Flasche oder ein Türschloss zu öffnen. Das Führen fördert gleichzeitig die Geschicklichkeit, etwa bei der Koordination der Füsse beim Laufen. Selbst Dinge wie das Liftfahren – als Inbegriff der Barrierefreiheit – sind keine Selbstverständlichkeit und müssen geübt werden. Es reicht nicht, die Drücker auf der richtigen Höhe zu positionieren, manmuss sie auch betätigen können. Oder überhaupt erst den Mut aufbringen, in den Aufzug einzusteigen, was beispielsweise für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung eine Herausforderung sein kann. Kreativität ist gefragt Der Motor hinter dem Lernprozess ist die Motivation. «Wenn ich etwas will», erklärt Andrea Galizia, «dann bemühe ich mich «Die Barrieren liegen weniger im Baulichen. Sie sind viel öfter im Kopf der Betroffenen.» Andrea Galizia, Sozialpädagogin Den Alltag trainieren Wendigkeit im Rollstuhl, Sicherheit im Umgang mit dem Blindenstock oder Unterstützung in Orientierung und Mobilität: Gezieltes Training kann Menschen mit einer Beeinträchtigung den Alltag erleichtern. Viele von ihnen brauchen aber mehr: ein lebenslanges Üben. Doch wie sieht das aus? Ein Augenschein in der St. Josef-Stiftung in Bremgarten. TEXT Christoph Zurfluh BILD Beat Brechbühl c Sozialpädagogin Andrea Galizia beimMorgenritual mit zwei Schülern und einer Kollegin (oben). Dilyar hat die Post abgeholt (unten).
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